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75 Jahre Darmstädter Wort - Jubiläum

Politische Zeitansage mit Lücke

Gedenktafel zur Erinnerung an die Entstehung des Darmstädter Worts im Elisabethenstift

Gedenktafel zur Erinnerung an die Entstehung des "Darmstädter Worts" im Elisabethenstift

75 Jahre nach dem sogenannten „Darmstädter Wort“ mit seinem epochalen Bekenntnis zur Verstrickung der evangelischen Kirche in die NS-Herrschaft streiten Expertinnen und Expterten um seine Deutung und seinen Gegenwartsbezug. Ist das „Darmstädter Wort“ womöglich viel zu kurzsichtig gewesen?

Von Rebecca Keller 

„Wir sind in die Irre gegangen“ ist ein markanter, wiederkehrender Satz des „Darmstädter Wortes“, des Schuldbekenntnisses des Bruderrates der Bekennenden Kirche von 1947. In einem epochalen Schritt bekannte sich dieser zur Mitverantwortung an „Irrwegen“, die zum Nationalsozialismus führten. Die Erklärung sollte einen grundlegenden Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichen. Der Veröffentlichung des Darmstädter Wortes vor 75 Jahren ist jetzt in Darmstadt am Ort dessen Entstehung im Elisabethenstift eine Gedenkveranstaltung gewidmet worden. Doch in einem Punkt sei „das Darmstädter Wort selbst in die Irre gegangen“. Das sagte etwa Ilona Clemens, Generalsekretärin des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, bei der Gedenkveranstaltung. Sie könne das Jubiläum nicht ungetrübt feiern, weil ein Wort zum Antisemitismus gänzlich fehle. Dies wäre auch im Kontext der damaligen Zeit anders gegangen, kritisierte die Theologin.

Jung: Keine Silbe für die Shoa übrig

Nach Worten von Hessen-Nassaus Kirchenpräsident Volker Jung habe die hessen-nassauische Kirche „eine besondere Verantwortung für die Erinnerung an das Darmstädter Wort“, wegen des historischen Ortes, aber auch, „weil der erste Kirchenpräsident Martin Niemöller zu den Verfassern zählte“. Jung würdigte die „orientierende Kraft“ des Wortes, aber kritisierte auch dessen Defizite. Kritik äußerte er etwa daran, „dass das Darmstädter Wort keine Silbe für das Menschheitsverbrechen der Shoa übrig hatte“. Auch dass „dem ökonomischen Materialismus der marxistischen Lehre“, wie es in der fünften These heißt, attestiert worden sei, das zu leisten, was das Christentum hätte leisten müssen, sei schon damals scharf kritisiert worden, so der Kirchenpräsident. Als „Wort politischer Zeitansage“ habe die Denkschrift des Bruderrats dennoch große Bedeutung. Angesichts des derzeitigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine sei das Darmstädter Wort eine „klare Absage gegen Militarismus und Nationalismus“. Das Hoffnungspotential des Wortes hob Volker Jung hervor, genauso wie den Aspekt von Schuld und Vergebung, „eine existentielle Erschütterung und Reue, die auf das Versöhnungshandeln Gottes hofft“.

Partsch: Auch heute radikale Wortmeldungen gefragt

Dass das Darmstädter Wort „auf Umwegen seine Wirkung in der evangelischen Kirche entfaltet“ habe wie etwa in der Friedens- und Umweltbewegung, erklärte Jochen Partsch. Der Darmstädter Oberbürgermeister verglich in seinem Beitrag den „Traum einer deutschen Sendung“, der im Wort als Irrweg benannt wird, mit dem ganz aktuellen „Traum einer besonderen russischen Sendung“, die auch noch von der orthodoxen Kirche unterstützt werde. Was die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine betreffe, müssten laut Partsch heute „bestimmte Fragestellungen neu bewertet werden“, um dem russischen Aggressor entgegenzutreten. Es bräuchte auch heute „mehr radikale Wortmeldungen“ als Diskussionsanstoß wie das Darmstädter Wort.

Hofmann: Fehler–Einräumen lernen

Auch die stellvertretende Landtagspräsidentin und berufenes Mitglied der Kirchensynode Heike Hofmann, bezog das Darmstädter Wort auf die heutige Politik. Sie persönlich habe vom Darmstädter Wort gelernt, „sich ganz in den Dienst der Versöhnung zu stellen“. Die Politik könne von dem Wort lernen, „auch Fehler einzuräumen“. Dies sei ein Zeichen der Stärke und würde wieder mehr Vertrauen in die Politik bewirken: „Die Politik sollte mutiger werden, Irrwege einzugestehen und so neue Wege zu wagen“, so die Sozialdemokratin. Sie setze sich persönlich für Frieden ein und glaube an die Kraft des Gebets. In Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine räumte Heike Hofmann Gewissenskonflikte ein und vertrat, dass die Ukraine von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen und das Land „besonnen unterstützt“ werden solle.

Pangritz: Neue weltanschauliche Frontenbildungen

Der Osnabrücker Theologieprofessor Andreas Pangritz warnte angesichts der aktuellen „Zeitenwende“ durch den Ukraine-Krieg vor einer „nie dagewesenen Welle der militärischen Aufrüstung und eine Expansion der Waffenexporte, die alles in den Schatten zu stellen drohen, was zuvor denkbar erschien“. Da scheine es wieder „dringend zu sein, daran zu erinnern, dass das Darmstädter Wort vor diesem Irrweg gewarnt“ habe. Mit der vierten These „Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen.“ gebe das Darmstädter Wort ein „Schuldbekenntnis im Blick auf die kirchliche Beteiligung an der Produktion von Feindbildern in der Nazi-Zeit“ ab. Zugleich warnte Professor Pangritz, dass im Zuge des Gefühls einer „Zeitenwende“ heute wieder ähnliche „weltanschauliche Frontbildungen“ wie im Kalten Krieg aufgebaut würden, wenn etwa so genannte westliche Werte gegen das Böse in Stellung gebracht würden.

Schmidt-Hesse: Dilemma-Situationen in Blick nehmen

Die frühere Darmstädter Dekanin und Mitinitiatorin der Jubiläumsveranstaltung, Pfarrerin Ulrike Schmidt-Hesse, wies darauf hin, dass die Beschäftigung mit dem Darmstädter Wort Anstoß und Ermutigung zum gesellschaftlichen Engagement und gemeinsame Orientierung bedeuten könne, gerade angesichts eines gesellschaftlichen Kontextes, der durch Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimakrise, zunehmendem Antisemitismus und Rassismus geprägt ist. Es müsste „mehr Raum für Debatten und gemeinsames Ringen ohne Abwertung der jeweils anderen Positionen und Personen geben“, so Ulrike Schmidt-Hesse. Das Darmstädter Wort könne Anstoß geben, „Verantwortung zu übernehmen und in Dilemma-Situationen auch Schuld zu übernehmen“. 

Zu der Veranstaltung unter dem Titel „Irrwege verlassen – Friedenswege suchen“ hatten die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, das Evangelische Dekanat Darmstadt, das Agaplesion Elisabethenstift, die Martin-Niemöller-Stiftung und das Zentrum Oekumene gemeinsam eingeladen.

Hintergrund Darmstädter Wort

Am 8. August 1947 veröffentlichte der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland ein „Wort zum politischen Weg unseres Volkes“, das er in Darmstadt verfasst hatte. Es ist das letzte große Wort des noch nach dem Ende des Krieges existierenden Bruderrates der Bekennenden Kirche und prangert die Irrwege des Deutschen Volkes an, die in die Katastrophe von Nationalsozialismus und Krieg führten. Es gilt als Positionspapier, das nicht nur nach innen an die Kirche gerichtet war, sondern im Sinne einer Denkschrift an das gesamte Volk. Es wollte den Deutschen, die schon vor der NS-Zeit eingeschlagenen Irrwege aufzeigen. Allerdings fehlt in dem „Darmstädter Wort“ auch ein Irrweg: Weder Antisemitismus noch Rassismus werden darin thematisiert. Das Wort kann auch heute zur kritischen Reflexion gegenwärtiger Irrwege helfen und zu neuen Schritten ermutigen: Schritte hin zu Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung und zur Überwindung von Antisemitismus und Rassismus.  


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